Schüler:innen schreiben: Menschsein und Trauer – ein Essay über Menschenwürde

Joana Kern (Q1) beschäftigt sich in einem philosophischen Essay mit dem Zusammenhang von Trauern und Menschenwürde:

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Das bedeutet nicht nur, dass wir uns Freundschaft und Verständnis suchen und uns von unserer Familie geliebt fühlen wollen, sondern dass wir Zuwendung zum Überleben brauchen.

Als Friedrich II. Von Hohenstaufen[1] versuchte, die Ursprache des Menschen zu ermitteln, probierte man, Neugeborene isoliert aufzuziehen. Die Pflegemütter durften sie nur füttern; sprechen oder sonstige Fürsorglichkeit zeigen durften sie nicht. Anstatt jedoch zu beginnen, sich auf Hebräisch oder Latein zu unterhalten, starben die Kinder – obwohl doch alle lebensnotwendigen Bedingungen erfüllt schienen.

Menschliches Leben braucht Fürsorge und Liebe. Diese zeigen wir durch körperliche sowie emotionale Nähe. Geteilte Freuden, Spannungen und Ängste machen derartige Beziehungen aus. Mit Hilfe von Mitleid und Trost erkennen wir unsere gegenseitigen Bedürfnisse als Menschen an, und wir erleben Trauer als Konsequenz zuvor empfundener Anerkennung und Zuneigung. Jule Govrin beschreibt diesen Aspekt von Judith Butlers Ethik der Verwundbarkeit so: „Trauer [macht] die soziale Verfasstheit des Selbst erfahrbar. Allerdings werden nicht alle Leben gleichermaßen betrauert, wodurch man denen, deren Leben nicht als betrauernswert gilt, das Menschsein aberkennt.“

Schwer verständlich und für den Fortlauf des Essays essentiell ist hier zunächst die Frage, wie ein Mensch dem anderen das Menschsein aberkennen kann; denn kaum ein methodischer Zweifler würde wohl argwöhnen, ob der andere ein Mensch sei. Oder würden Sie den Kindern in Hohenstaufens Experiment das Menschsein aberkennen?

Auch auf Menschlichkeit als gemeinhin anerkannte moralische Gesinnung scheint das Zitat sich nicht zu beziehen.

Ist hier also vom Menschen als soziales Konstrukt die Rede, dessen Bedingung die Anerkennung durch die Umwelt ist? Sind wir alle die Kreationen unseres eigenen Frankensteins, deren Nachbarn entscheiden, ob wir Mensch sind oder Monster? Denn auch, wenn einem Menschen keine Fürsorge zukommt, bleibt er doch per definitionem ein Mensch.

Nicht das Menschsein im wörtlichen Sinne, nein, die Menschenwürde wird dem Menschen laut Butler aberkannt, wenn er nicht betrauernswert ist; Zuneigung zu Lebzeiten also scheinbar nicht gebraucht oder verdient hat, da Trauer schließlich Konsequenz dieser Emotionen ist.

Der Begriff der Menschenwürde[2], wenn auch schwierig zu definieren, ist eine Bündelung der Grundrechte und -bedürfnisse des Menschen und schützt den Anspruch, in allen menschlichen Eigenschaften gehört und geachtet zu werden. Er umfasst das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, respektvolle Behandlung, Autonomie, Integrität. Er begründet unser Recht auf Schutz und Leben und alles, was wir zum Überleben brauchen – auch Bedingungen für ein lebenswertes Dasein allein wie Respekt und Freiheit sind bereits Teil der Menschenwürde.

Die Erfahrung von Zuneigung und Nähe ist ein Grundbedürfnis des Menschen, ohne welches wir erwiesenermaßen zumindest als Kinder nicht überleben können, das unabhängig davon aber auch ein wichtiger Teil unserer Existenz ist. Demnach sollte es zum Begriff der Menschenwürde gehören und die Aberkennung dieses gleichzusetzen sein mit der Aberkennung der Menschenwürde; oder eben des Menschseins.

Butlers These lautet also, dass Trauer als Konsequenz zuvor empfundener Zuneigung ein Mittel ist, unsere gegenseitigen Bedürfnisse als Menschen anzuerkennen, wodurch die Aberkennung von Betrauernswertheit der Aberkennung der Menschenwürde gleichkommt.

 

Erfahren wird die Trauer in erster Instanz durch die Umwelt, ist also in erster Linie für diese von Bedeutung. Der Trauernde erfährt neben dem Schmerz des Verlustes auch, wie sein Umfeld auf diesen Schmerz reagiert. Der Mensch braucht den Spiegel des Gegenübers um sein Selbst, seinen Wert, seine Menschlichkeit zu erfahren. Zugleich reflektiert sein soziales Umfeld auch, welcher Wert dem Verstorbenen zugesprochen wird – als wie betrauernswert er gilt.

Aber woran erkennt man denn die Größe der Trauer? Wer entscheidet, ob ein Menschenleben betrauernswert ist?

Wie so häufig ist es auch hier am einfachsten, diese Macht der Mehrheit zuzusprechen. Ist aber das Opfer eines Terroranschlages, das von Millionen Menschen betrauert wird, mehr wert als ein alter Mensch ohne Kinder, der nur seinen Partner zurücklässt, oder die namenlose Nachbarin, die eines Tages nicht mehr aus dem Bett aufsteht?

Zugunsten dieser These könnte man davon ausgehen, dass derjenige, der den größten Einfluss auf seine Umwelt hat, am betrauernswertesten ist – ein unschuldiges, beweintes Opfer als Symbol für das Grauen des Terrors und für viele Menschen Aufruf zum Protest; ein berühmter Musiker, der unzählige Menschen zusammengebracht hat.

Wenige Absätze zuvor haben wir allerdings festgestellt, dass die Trauer Anerkennung der Menschenwürde ist. Nicht nur wird allerdings ein Symbol nicht seiner Würde, sondern seines Nutzens wegen betrauert; auch ist die Würde eines jeden Menschen unanfechtbar gleich und dementsprechend nicht dadurch definiert, wie viele Menschen sie anerkennen.

Hieraus muss man den Rückschluss ziehen können, dass die Trauer des Einzelnen genau so viel wert ist wie die Trauer vieler, wenn sie ungefähr gleich aufrichtig und tiefgehend ist (ein Wert, der sich natürlich nicht messen lässt).

Intuitiv klingt dies richtig. Selbstverständlich ist die Trauer eines Kindes um ein Elternteil nicht weniger oder mehr wert als die Trauer einer ganzen Familie um ein verstorbenes Kind.

Dennoch bleibt die Frage: Was ist mit Menschen, die in Einsamkeit sterben? Wenn niemand um mich trauert, wird mir dann meine Würde aberkannt? Es ist aber doch unmöglich, dass jeder um jeden trauert! Wenn niemand mich kennt, dann ist es dementsprechend niemandes Verantwortung, um mich zu trauern. Dies bedeutet indes nicht, dass man mir mein Menschsein aberkennen will.

Bei solchen Fällen gibt es ferner immer noch Menschen, die einer Beerdigung beiwohnen. Der SWR berichtete am 5.12.2022 unter dem Titel „Einsam im Tod – Wenn Menschen ohne Angehörige sterben“, dass es immer Trauerredner gibt, die dem Toten Respekt erweisen sollen. Die Menschenwürde muss aktiv anerkannt werden, um zu umgehen, dass sie passiv aberkannt wird. Dennoch: Reicht die Zuwendung einer fremden Person? Die Trauer des Unbekannten mag niemals so aufrichtig sein wie der Schmerz eines Familienmitglieds oder Freundes. Womöglich ist also nicht einmal das notwendig – Genügt als Anerkennung des Menschseins ein schlichtes Bedauern, das Da-Sein von irgendjemandem, der weiß: Du bist ein Mensch, du hast eine Würde; und auch wenn ich nicht dazu in der Lage bin, dich auf persönlicher Ebene zu betrauern, so kann ich doch um ein Menschenleben trauern – um ein Potential vielleicht nur?

Dieser Fall ist schwierig zu erfassen und kaum eindeutig zu beantworten, und er widerspricht der Anfangsthese auf interessante Weise: Selbst wenn wir entscheiden, dass eine solche Respekterweisung nicht als gleichwertig mit wahrer Trauer zu betrachten ist, erkennt doch niemand dem Verstorbenen das Menschsein ab.

 

Lassen wir vorübergehend von diesem Problem ab – Um die Idee besser zu erfassen, versuche ich diesmal nicht zu erfragen „Wer trauert?“, sondern vielmehr: „Wer trauert nicht?“

Wenn ein Jude im Nazi-Regime stirbt, wer trauert nicht? – Natürlich; jene, die sich über ihm stehend wähnen.

Wenn eine Person mit einer Behinderung suizidal wird, wen nimmt das nicht mit? – Wohl diejenigen, die sie als Belastung des Systems, als wertlos sehen.

Wenn ein Flüchtlingskind nicht überlebt, wer trauert nicht? – Diejenigen, die seinem Gesuch nach Schutz und Freiheit, nach der Anerkennung seiner Menschenrechte achtlos gegenüberstehen.

Wenn eine Transperson in einer transphobischen Umgebung stirbt, wer trauert nicht? – Jene, die ihre Identität, ihr Weltbild, ihre Empfindungen und ihr Bedürfnis nach Unterstützung nicht anerkennen.

Der offensichtliche Schluss: Diejenigen, die nicht trauern, sind zugleich diejenigen, die dem Betroffenen seine menschlichen Bedürfnisse aberkennen. Wer glaubt, dass der andere ein niederer Mensch ist, der andere nur belastet und dem Unterstützung, Verständnis, Schutz und Freiheit nicht zustehen, der empfindet auch keine Trauer um ihn. Hieraus könnte man wohl den Umkehrschluss ziehen, dass ich, indem ich den einen weniger betrauere als den anderen, dem einen sein Menschsein aberkenne.

Wir natürlich, als gute, moralisch handelnde Menschen, erkennen aber offenkundig eines Jeden Menschenwürde an.

 

Die unangenehme Frage, auf die das hier wohl oder übel irgendwann hinausläuft – Wenn ein Mörder oder Vergewaltiger stirbt, wer ist eher erleichtert?

So einfach es ist zu sagen, dass wir mit unserem heutigen Verständnis von Moral anerkennen, dass jeder Mensch eine unantastbare Würde besitzt, die wir respektieren; so schwierig ist es, um jeden Einzelnen zu trauern – selbst wenn wir der Einfachheit halber davon ausgehen, dass wir nur die Verantwortung tragen, jene zu betrauern, die wir auch tatsächlich in irgendeiner Weise gekannt haben.

Es fällt uns schwer, um jemanden zu trauern, der seinerseits gegen unsere Vorstellungen von Menschenwürde und Moral verstoßen hat. Um einen Menschen wie Hitler zu trauern; das führt zu weit, finden wir. Und das hat wenig mit einer Entscheidung für ein „kleineres Übel“ zu tun, wie man vielleicht meinen könnte: Dass die Würde dieses einen, Hitler, eben abgesprochen werden müsse, um andere Menschen in ihrer Würde und Unversehrtheit zu bewahren.

Auch bei anderen Beispielen ist dies der Fall. Jemanden, der unseren Nachbarn ermordet hat, bedauern wir nicht. Über den Tod von jemandem, der unseren Freund vergewaltigt hat, sind wir vermutlich erleichtert; vielleicht empfinden wir auch eine grimmige Freude, aber doch ein Gefühl von Gerechtigkeit. In einer derartigen Situation ist es nicht undenkbar, auf die Frage: „Besitzt dieser Mensch eine Würde, ein Recht auf Leben und Sicherheit?“ schlichtweg mit Nein zu antworten.

Und dennoch: So wird es nicht jedem ergehen, der über die Menschenwürde philosophiert. Hitler mögen einige noch die Würde abzustreiten versuchen, aber den meisten Verbrechern, sogar Mördern und Vergewaltigern, würden wohl fast alle eine Würde und die Grundrechte zusprechen – mit einem sicheren emotionalen und physischen Abstand natürlich. Um sie zu trauern jedoch – das finden wir zu viel verlangt.

Wobei auch hier fraglich ist, ob wir zu dieser Erfüllung der Grundbedürfnisse auch menschliche Nähe zählen, oder ob wir sie in diesem Fall als „rangniedriger“ unter den Bedürfnissen betrachten: Nach drei Tagen ohne Wasser sind wir dem Tod nahe, nach drei Wochen ohne Zuneigung leben wir noch immer. Vielleicht gestehen wir ihnen also schneller Nahrung und Unterkunft, aber keine Nähe zu; sogar wenn wir es allerdings tun: Wir selbst bringen derartige Empfindungen kaum auf.

Und wieder sind wir beim zuvor erwähnten einsam Verstorbenen angekommen. Auch dieser hat unserer Erkenntnis nach eine Menschenwürde, die ihm nicht aberkannt wird, da ihn schlicht niemand kennt – und doch trauert niemand um ihn. So untrennbar verbunden, wie das Zitat Trauer und Menschsein erscheinen lässt, sind sie also nicht: Trauer ist nämlich, wie andere Emotionen, nicht logisch steuerbar. Wir können uns nicht „entscheiden“, jemanden zu lieben oder zu verachten. Und auch Trauer als Konsequenz zuvor empfundener Zuneigung; Mitleid aufgrund eines tragischen Schicksals; Reue für alles, das hätte sein können, aber nun nicht ist – dies können wir nicht aktiv steuern.

 

Es ist kurzerhand unmöglich, eine absolutistische These wie diese überall ohne Fehl anzuwenden. Der Gedanke, dass „[Nicht] alle Leben gleichermaßen betrauert [werden], wodurch man denen, deren Leben nicht als betrauernswert gilt, das Menschsein aberkennt“, mag im Großen und Ganzen eine Parallele zwischen Trauer und der Anerkennung menschlicher Bedürfnisse erkannt haben, doch ist Korrelation nicht gleich Kausalität: Tätigt jemand aktiv die Aussage, dass ein bestimmtes Leben nicht betrauernswert sei, so erkennt er diesem das Mensch-Sein ab. Doch Derartiges geschieht nur mit äußerster Seltenheit. So viele Zugeständnisse man ihr auch macht (das Aus-der-Gleichung-Nehmen jener, die den Verstorbenen nicht kennen; das Negieren von Menge der Trauernden und aufrichtige Intensität der Emotion), diese These ist zu absolutistisch, um zu stimmen. Dennoch ist sie nicht gänzlich fruchtlos; schließlich weist sie durchaus auf den Umstand hin, dass einigen Leben weniger Zuneigung zuzukommen scheint als anderen, und dass Liebe als Grundbedürfnis häufig vergessen oder gar nicht erst als solches betrachtet wird.

Daher bin ich der Meinung, diese These sollte als Ausgangspunkt für die Fragen gewählt werden: Was genau ist denn nun eigentlich Menschenwürde?

Ist Zuneigung ein Teil davon?

Oder kommt sie nur einigen Menschen oder nur Kindern zu?

Und wenn sie als Grundbedürfnis gelten soll: Ist es möglich, dieses zu erfüllen?

 

[1]Spektrum der Wissenschaft

[2]Ethik-Lexikon

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